ADHS und Tinnitus
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ADHS und Tinnitus – Wenn zwei unsichtbare Welten aufeinandertreffen

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ADHS und Tinnitus – auf den ersten Blick scheinen diese beiden Begriffe nichts miteinander zu tun zu haben. Das eine beschreibt eine neurobiologische Entwicklungsvariante, die mit Aufmerksamkeit, Impulssteuerung und Hyperfokus verbunden ist. Das andere bezeichnet das Erleben von Tönen im Ohr, die keine äussere Quelle haben. Doch in den letzten Jahren wächst das Interesse an einer möglichen Verbindung zwischen beiden Phänomenen. Menschen, die sowohl mit ADHS leben als auch von Tinnitus betroffen sind, berichten immer wieder von Wechselwirkungen, die ihren Alltag beeinflussen: Der Tinnitus drängt sich in den Vordergrund, wenn die Aufmerksamkeit ohnehin schwer zu steuern ist, oder er verstärkt das Gefühl von Reizüberflutung, das viele ADHS-Betroffene kennen.

In diesem Beitrag beleuchten wir, was die Forschung bislang über diesen Zusammenhang weiss, welche Mechanismen diskutiert werden, und was Betroffenen helfen kann, mit der Doppelbelastung umzugehen.


Tinnitus – Wenn das Ohr nicht mehr schweigt

Um zu verstehen, wie ADHS und Tinnitus sich gegenseitig beeinflussen könnten, lohnt es sich, zunächst den Tinnitus genauer anzusehen.

Tinnitus ist die Wahrnehmung eines Geräusches ohne externe Quelle. Betroffene hören Pfeifen, Rauschen, Summen oder Brummen – manche beschreiben es wie Grillenzirpen, andere wie einen durchgehenden hohen Ton. Wichtig ist: Der Ton entsteht nicht „in der Luft“, sondern im Gehirn.

Formen und Häufigkeit

Fachleute unterscheiden:

  • Akuten Tinnitus, der nach einem Konzert, Lärmtrauma oder Infekt auftreten und oft wieder verschwinden kann.
  • Chronischen Tinnitus, der länger als drei Monate anhält und für manche zu einem dauerhaften Begleiter wird.

Untersuchungen zeigen, dass rund 10 bis 15 %der Bevölkerung in Europa Tinnitus kennen (vgl. Frontiers in Neuroscience, 2024). Etwa 1 bis 2 Prozent empfinden ihn als stark belastend, mit deutlichen Auswirkungen auf Lebensqualität, Schlaf und Konzentration.

Was im Gehirn passiert

Neurowissenschaftlich wird Tinnitus oft mit „phantomartigen“ Wahrnehmungen verglichen – ähnlich wie Phantomschmerzen nach einer Amputation. Nach einer Schädigung im Hörsystem (z. B. durch Lärm) passt sich das Gehirn an und verstärkt interne Signale, bis ein Geräusch „hörbar“ wird, das eigentlich nicht da ist.

Dabei spielen der auditive Kortex, Aufmerksamkeitsnetzwerke und emotionale Zentren wie die Amygdala zusammen. Stress, Müdigkeit oder psychische Belastungen können diese Wahrnehmung verstärken.


Erste Studien: Gibt es einen Zusammenhang zu ADHS?

Die Forschung zur direkten Verbindung von ADHS und Tinnitus steckt noch in den Kinderschuhen. Doch erste Ergebnisse weisen in eine interessante Richtung.

Aufmerksamkeit und Tinnitus-Leid

Eine koreanische Studie (Evaluation of Anxiety Sensitivity, Anxiety, Depression, and Attention Deficit Hyperactivity Disorder in Patients with Tinnitus) untersuchte Erwachsene mit chronischem Tinnitus. Sie nutzte den ASRS-Fragebogen (ein gängiges Screening-Instrument für ADHS-Symptome). Das Ergebnis: Je höher die Werte in der Subskala „Unaufmerksamkeit“, desto stärker wurde der Tinnitus als belastend erlebt.

Mit anderen Worten: Menschen mit ADHS-typischen Schwierigkeiten, Reize zu filtern und den Fokus zu halten, scheinen den Tinnitus intensiver wahrzunehmen.

Kognitive Einschränkungen

Eine Metaanalyse (Frontiers in Neuroscience, 2024) zeigt, dass Tinnitus häufig mit kognitiven Beeinträchtigungen einhergeht. Etwa bei Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder exekutiven Funktionen. Genau jene Bereiche, die auch bei ADHS betroffen sind. Das legt nahe, dass sich die Effekte verstärken können, wenn beides zusammenkommt.

Psychische Belastung

Tinnitus wird oft von Angst und Depression begleitet. In einer Studie litten rund 24 Prozent der Betroffenen unter moderaten bis schweren Angstzuständen (The association between stress, emotional states, and tinnitus: a mini-review). Auch hier zeigt sich eine Parallele: Menschen mit ADHS haben ein erhöhtes Risiko für Angstsymptome, insbesondere wenn sie chronisch überfordert sind.


Gemeinsame Mechanismen – Warum ADHS und Tinnitus sich gegenseitig beeinflussen könnten

Warum könnte gerade bei Menschen mit ADHS der Tinnitus stärker ins Gewicht fallen? Es gibt mehrere Hypothesen:

1. Aufmerksamkeitsfilter im Dauerstress

Menschen mit ADHS haben oft Mühe, irrelevante Reize auszublenden. Das Gehirn springt von einem Eindruck zum nächsten, und Hintergrundgeräusche werden nicht zuverlässig gefiltert. Ein Tinnitus ist im Grunde nichts anderes als ein permanenter Hintergrundreiz. Während andere ihn im Laufe der Zeit „ausblenden“, bleibt er bei ADHS-Betroffenen oft störend präsent.

2. Reizüberflutung und Hyperfokus

Viele kennen das typische ADHS-Gefühl: Alles ist gleichzeitig da: Stimmen, Geräusche, Gedanken. Ein inneres Pfeifen kann da wie das letzte Puzzleteil wirken, das die Überlastung komplett macht. Umgekehrt berichten manche, dass sie im Hyperfokus den Tinnitus kaum noch wahrnehmen – bis er in einer Ruhephase umso stärker zurückkommt.

3. Neurotransmitter und Netzwerke

Sowohl Tinnitus als auch ADHS hängen mit veränderten Botenstoffen zusammen. Bei ADHS spielen Dopamin und Noradrenalin eine Rolle, bei Tinnitus unter anderem GABA, Glutamat und Serotonin. Es wird diskutiert, dass Ungleichgewichte in diesen Systemen dazu führen können, dass das Gehirn Signale verstärkt oder nicht ausreichend hemmt – mit dem Ergebnis, dass Geräusche im Kopf präsenter bleiben.

4. Stress als Verstärker

Stress ist einer der stärksten Treiber für Tinnitus. Wer angespannt ist, nimmt den Ton lauter und störender wahr. Menschen mit ADHS erleben jedoch oft erhöhten Stress, sei es durch Reizüberflutung, Schlafprobleme oder das Gefühl, Anforderungen nicht zu genügen. Das kann eine Spirale in Gang setzen: Stress verstärkt den Tinnitus, der Tinnitus verstärkt wiederum den Stress.


Was bedeutet das für Betroffene?

Die Verbindung von ADHS und Tinnitus ist wissenschaftlich noch nicht abschliessend erforscht. Aber die bisherigen Erkenntnisse geben Hinweise, wie Betroffene mit beiden Themen umgehen können.

Diagnostik und Abklärung

Wenn jemand mit ADHS plötzlich Tinnitus entwickelt, ist eine Abklärung beim HNO-Arzt sinnvoll. Umgekehrt kann es für Tinnitus-Betroffene mit Konzentrationsproblemen lohnend sein, ein ADHS-Screening zu machen. Beide Phänomene können sich gegenseitig beeinflussen. Je früher sie erkannt werden, desto besser.

Stressmanagement und Psychoedukation

Entspannungstechniken, Achtsamkeitsübungen oder kognitive Verhaltenstherapie können helfen, die Wahrnehmung des Tinnitus zu verändern und Stress zu reduzieren. Wer ADHS hat, profitiert oft von klaren Routinen und Hilfen im Alltag. Diese Struktur kann gleichzeitig die Belastung durch Tinnitus verringern.

Klangtherapie und Hintergrundgeräusche

Viele Tinnitus-Betroffene nutzen leise Hintergrundgeräusche – von Naturklängen bis zu weissem Rauschen – um den Ton weniger auffällig zu machen. Bei ADHS gilt es, sorgfältig auszuprobieren: Für manche sind zusätzliche Geräusche entlastend, für andere wiederum überfordernd.

Medikamente – Ein zweischneidiges Schwert

Stimulanzien wie Methylphenidat, die bei ADHS wirksam sind, können bei manchen den Tinnitus verstärken, bei anderen jedoch keine Rolle spielen. Es gibt bislang keine klare Datenlage, nur Einzelfallberichte. Deshalb gilt: eng mit Fachärztinnen und Fachärzten abstimmen, was passt.

Selbsthilfe und Alltagstricks

  • Schlafhygiene: Ein regelmässiger Schlafrhythmus senkt Stress und reduziert Tinnitusbelastung.
  • Struktur: Aufgabenlisten, Erinnerungen und feste Routinen helfen, mentale Ressourcen zu sparen.
  • Bewusste Pausen: Wer überreizt ist, hört den Tinnitus stärker. Kleine Auszeiten zwischendurch können Wunder wirken.

Forschungslücken und Ausblick

Noch stehen wir am Anfang. Es gibt nur wenige Studien, die explizit beide Themen gemeinsam untersuchen. Künftige Forschung muss klären:

  • Führt ADHS zu einer erhöhten Anfälligkeit für belastenden Tinnitus?
  • Können ADHS-Medikamente das Risiko beeinflussen?
  • Gibt es spezifische Therapien, die auf beide Phänomene gleichzeitig abzielen?

Bis dahin bleibt es wichtig, die Erfahrungen von Betroffenen ernst zu nehmen und interdisziplinär zu arbeiten – HNO, Psychiatrie, Neurowissenschaft und Psychotherapie.


Fazit – Zwei Welten, ein gemeinsames Erleben

Tinnitus ist schon für sich eine grosse Herausforderung. In Kombination mit ADHS kann er noch stärker ins Gewicht fallen, weil die Filterung von Reizen schwieriger ist, Stressbelastung höher und Aufmerksamkeit instabil.

Die Forschung zeigt erste Überschneidungen: Aufmerksamkeitsprobleme können das Tinnitus-Erleben verstärken, und umgekehrt kann ein störender Ton die ADHS-Symptomatik belasten.

Für Betroffene, wie mich selbst, heisst das: Nicht allein kämpfen. Fachliche Abklärung, gezielte Strategien und ein bewusster Umgang mit Stress können helfen, die Spirale zu durchbrechen. Und auch wenn die Wissenschaft noch nicht alle Antworten hat, wächst das Verständnis dafür, dass ADHS und Tinnitus nicht zwei völlig getrennte Welten sind – sondern einander berühren.


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Rechtlicher Hinweis: Dieser Artikel dient ausschliesslich der Information und Prävention. Die Inhalte ersetzen keine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung. Bei akuten psychischen Belastungen wende Dich an einen Arzt oder Psychotherapeuten. Coaching ist keine Heilkunde und behandelt keine Krankheiten.


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