Medical Gaslighting bei neurodivergenten Frauen: „Das ist bestimmt nur Stress.“ „Sie sind einfach sensibel.“ „Probieren Sie es mal mit Entspannung.“ Wer solche Sätze schon einmal in einer Arztpraxis gehört hat, weiss, wie entmutigend sie wirken können. Besonders Frauen erleben oft, dass ihre Symptome bagatellisiert oder psychologisiert werden. Für neurodivergente Frauen – also Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen neurologischen Besonderheiten – kann das noch weitreichendere Folgen haben.
Wenn Beschwerden nicht ernst genommen, Diagnosen verzögert oder Untersuchungen verweigert werden, sprechen Forschende heute von Medical Gaslighting. Dieses Phänomen beschreibt subtile Formen der Entwertung, die Patientinnen dazu bringen, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. In diesem Beitrag geht es darum, wie Medical Gaslighting entsteht, weshalb neurodivergente Frauen besonders gefährdet sind und welche Wege zu mehr Selbstvertretung führen können.
Was bedeutet Medical Gaslighting?
Medical Gaslighting bezeichnet eine Dynamik, bei der medizinisches Fachpersonal die geschilderten Beschwerden einer Patientin herunterspielt, auf psychische Ursachen reduziert oder als übertrieben einstuft, oft ohne gründliche Abklärung. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Psychologie und beschreibt Manipulationsmuster, die Menschen dazu bringen, an der eigenen Realität zu zweifeln. In der Medizin geschieht dies häufig unbewusst, etwa durch stereotype Denkmuster oder fehlendes Wissen.
Eine Analyse in der Fachzeitschrift The American Journal of Medicine beschreibt Medical Gaslighting als ernstzunehmendes Kommunikationsproblem, das zu Fehldiagnosen, verspäteter Behandlung und Vertrauensverlust führt (Am J Med, 2024). Auch Harvard Health warnt davor, dass betroffene Patientinnen häufiger psychische Störungen attestiert bekommen, obwohl körperliche Ursachen vorliegen (Harvard Health Publishing).
Typisch ist dabei nicht der offene Widerspruch, sondern die subtile Herabstufung: Ein leichtes Lächeln, ein abwinkender Tonfall oder der Satz „Das kennen viele Frauen“. Kleine Gesten, die grosse Wirkung haben.
Warum betrifft Medical Gaslighting neurodivergente Frauen besonders?
Viele neurodivergente Frauen berichten, dass sie jahrelang von Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen wurden. Ihre Symptome – etwa chronische Erschöpfung, Schmerzen, Reizüberempfindlichkeit oder hormonelle Schwankungen – werden häufig als psychosomatisch abgetan. Das liegt zum Teil daran, dass Neurodivergenz bei Frauen lange unterdiagnostiziert war. Studien zeigen, dass ADHS oder Autismus bei Mädchen und Frauen oft übersehen werden, weil sie ihre Symptome kompensieren oder „maskieren“ (PMC, 2023).
Das führt zu einer doppelten Unsichtbarkeit: Einerseits werden Frauen in der Medizin generell weniger ernst genommen, andererseits gilt Neurodivergenz immer noch als „männlich konnotiert“. Wenn also eine Frau über Konzentrationsprobleme, chronische Müdigkeit oder diffuse Schmerzen spricht, passt sie in kein bekanntes Schema und wird leichter als „emotional“ oder „überfordert“ wahrgenommen.
Eine britische Studie fasst zusammen, dass neurodivergente Frauen überdurchschnittlich häufig unterversorgt sind, weil Ärztinnen und Ärzte ihre Symptome fehlinterpretieren (The New Feminist, 2025). Dabei ginge es selten um böse Absicht, sondern um systemische Blindstellen: mangelnde Schulung, stereotype Vorstellungen und Zeitdruck in der Praxis.
Wenn Zweifel krank machen
Medical Gaslighting ist mehr als ein unangenehmes Gespräch. Es kann die psychische und körperliche Gesundheit nachhaltig beeinträchtigen. Eine systematische Übersichtsarbeit beschreibt, dass betroffene Frauen häufiger unter Angst, Depressionen, Schuldgefühlen und einem verminderten Selbstwert leiden (ResearchGate, 2024). Viele beginnen, ihre eigenen Wahrnehmungen infrage zu stellen und vermeiden künftige Arztbesuche.
Gerade neurodivergente Personen, die ohnehin viel Energie aufbringen müssen, um im Alltag zu funktionieren, geraten so in einen Teufelskreis: Fehlende Diagnosen führen zu fehlender Behandlung, was wiederum das Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem verstärkt. Einige berichten, dass sie erst nach Jahren eine korrekte Diagnose erhielten, wie etwa eine Stoffwechselstörung, eine hormonelle Dysbalance oder eine neurologische Komorbidität, die lange ignoriert wurde.
Das Gefühl, „zu kompliziert“ zu sein, ist eine häufige Folge. Doch die Wahrheit ist: Das System ist nicht auf komplexe Realitäten vorbereitet, und genau darin liegt das Problem.
Wege aus dem Gaslighting
Es gibt keine einfache Lösung. Aber es gibt Schritte, die helfen, Kontrolle und Vertrauen zurückzugewinnen.
Ein erster Ansatz ist Wissen. Wer weiss, dass Medical Gaslighting existiert, erkennt es schneller. Betroffene berichten, dass sie ihre Arztgespräche besser steuern können, wenn sie Symptome dokumentieren, Fragen vorbereiten und sich Unterstützung holen. Auch Zweitmeinungen sind kein Zeichen von Misstrauen, sondern von Selbstschutz.
Wichtig ist zudem, eigene Grenzen ernst zu nehmen. Wenn Sie spüren, dass Sie systematisch überhört werden, dürfen Sie das ansprechen – oder die Praxis wechseln. Unterstützung durch Begleitpersonen kann ebenfalls entlastend wirken, besonders bei komplexen Gesprächen.
Langfristig braucht es jedoch strukturelle Veränderungen: mehr Sensibilisierung in der medizinischen Ausbildung, bessere Forschung zu neurodivergenter Frauengesundheit und ein Gesundheitssystem, das Diversität nicht als Ausnahme, sondern als Normalität versteht.
Ein fiktives Beispiel
Lisa, 34, lebt mit einer späten ADHS-Diagnose. Seit Jahren klagt sie über chronische Erschöpfung und Herzrasen. Mehrfach hört sie, sie solle „besser schlafen“ oder „mehr Sport treiben“. Erst nach einer spezialisierten Abklärung wird festgestellt, dass sie zusätzlich an einer Regulationsstörung des autonomen Nervensystems leidet, ein bekanntes, aber oft übersehenes Begleitsymptom bei ADHS.
Lisas Geschichte steht stellvertretend für viele Frauen, deren Beschwerden erst dann ernst genommen werden, wenn sie selbst unermüdlich nach Antworten suchen. Medical Gaslighting ist in solchen Fällen kein Randphänomen, sondern ein strukturelles Muster.
Meine Frau, Kerstin, kennt Medical Gaslighting aus eigener Erfahrung. Ein IQ-Test wurde ihr von der Abklärungsstelle für Autismus und ADHS verweigert. Alle Schwierigkeiten, welche sie im Alltag begleiten, wurden von der „Fachperson“ unter den Tisch gewischt und als „nichtig“ abgetan. Professionalität sieht anders aus. Hierzu ist zu sagen, dass diese Abklärungen bei dieser Stelle nebenbei erfolgen. Ein Grund mehr, sich an professionelle Stellen zu wenden, welche hauptberuflich mit Neurodivergenz zu tun haben. Zum Thema Medical Gaslighting bei neurodivergenten Frauen geben wir sehr gerne unsere Erfahrungen weiter.
Fazit
Medical Gaslighting bei neurodivergenten Frauen zeigt, wie tief gesellschaftliche Vorurteile und Wissenslücken in der Medizin verankert sind. Frauen, insbesondere neurodivergente Frauen, erleben häufig, dass ihre Körper und Wahrnehmungen weniger Glaubwürdigkeit besitzen als die Perspektive des medizinischen Gegenübers. Das ist kein individuelles Versagen, sondern ein systemisches Problem.
Doch Aufklärung und Selbstermächtigung können viel bewirken. Wer weiss, dass Medical Gaslighting existiert, kann sich besser wehren – und sich selbst wieder als Expertin des eigenen Körpers verstehen.
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Rechtlicher Hinweis: Dieser Artikel dient ausschliesslich der Information und Prävention. Die Inhalte ersetzen keine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung. Bei akuten psychischen Belastungen wende Dich an einen Arzt oder Psychotherapeuten. Coaching ist keine Heilkunde und behandelt keine Krankheiten.
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