„Ich dachte, mit mir stimmt etwas nicht.“ Diesen Satz hört man oft von Frauen, die erst im Erwachsenenalter erfahren, dass sie neurodivergent sind – etwa mit ADHS, Autismus oder sensorischen Besonderheiten. Viele hatten ihr Leben lang das Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören. Sie waren erfolgreich, empathisch, leistungsfähig – aber innerlich erschöpft. Spätdiagnose bei Frauen mit Neurodivergenz: ein unterschätztes Problem.
Für viele Frauen mit Neurodivergenz ist eine späte Diagnose der Moment, in dem sich plötzlich alle Puzzleteile fügen. Endlich ergibt das Leben rückblickend Sinn. Aber sie bringt auch Schmerz: über verpasste Chancen, Fehldiagnosen, Anpassung und Missverständnisse.
Warum Frauen mit Neurodivergenz oft erst spät erkannt werden
Dass Frauen seltener und später diagnostiziert werden, ist kein Zufall.
Die meisten diagnostischen Modelle stammen aus den 1980er- und 1990er-Jahren – und wurden fast ausschliesslich an männlichen Probanden entwickelt. Dadurch sind die Kriterien für Autismus und ADHS stark auf „typisch männliche“ Erscheinungsbilder zugeschnitten.
Mädchen und Frauen mit Neurodivergenz verhalten sich oft anders. Statt auffällig laut oder impulsiv zu sein, sind sie häufig ruhig, gewissenhaft, überangepasst. Sie fallen nicht auf – und gerade das wird ihnen zum Verhängnis.
Eine Metaanalyse von Loomes et al. (2017) zeigte, dass das tatsächliche Verhältnis von Männern zu Frauen im Autismus-Spektrum nicht 4:1, sondern näher bei 3:1 liegt. Die Forschenden führen das nicht auf biologische Unterschiede zurück, sondern auf einen diagnostischen Gender-Bias: Frauen werden schlicht übersehen, weil ihre Symptome anders gelesen werden.
Viele Betroffene berichten, dass sie jahrelang Therapien, Medikamente oder Fehldiagnosen hinter sich haben – Depression, Burn-out, Angststörung, Borderline. Nichts passte so richtig. Erst mit der neurodivergenten Perspektive wird klar: Die Ursache lag nicht in einem Defizit, sondern in einem anderen Wahrnehmungsstil.
Das Leben vor der Diagnose – Masking als Überlebensstrategie
Wenn du als Frau mit Neurodivergenz aufwächst, lernst du früh, dass du „nicht zu viel“ sein darfst. Nicht zu laut, nicht zu direkt, nicht zu sensibel. Also lernst du, dich anzupassen.
Du beobachtest andere, imitierst ihre Mimik, übst Blickkontakt, analysierst Gespräche, überlegst nach jeder Begegnung, ob du „normal genug“ gewirkt hast.
Das nennt man Masking oder Camouflaging – ein bewusster oder unbewusster Versuch, die eigene Neurodivergenz zu verstecken, um dazuzugehören.
Kurzfristig hilft es. Langfristig kostet es dich enorme Energie.
In einer qualitativen Studie von Bargiela, Steward & Mandy (2016) berichten Frauen, die erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurden, von Jahrzehnten des inneren Drucks. Viele beschreiben, dass sie ihr Leben lang eine Rolle gespielt haben – perfekt im Aussen, aber innerlich leer.
Eine Teilnehmerin sagte: „Ich habe so lange versucht, mich selbst zu überholen, dass ich mich irgendwann verloren habe.“
Masking ist eine Überlebensstrategie in einer Welt, die neurodivergente Frauen kaum versteht. Doch es hat Folgen:
– chronische Erschöpfung, weil du ständig kompensierst
– Selbstentfremdung, weil du dich von deinem echten Wesen entfernst
– psychische Belastung, weil du nie „einfach sein darfst“
Viele erleben das Leben vor der Diagnose wie ein Marathon ohne Ziel – immer rennend, aber nie ankommend.
ADHS bei Frauen – das Chaos hinter der Kontrolle
Auch ADHS bleibt bei Frauen mit Neurodivergenz oft unentdeckt.
Das gängige Bild vom „Zappelphilipp“ passt nicht zu ihnen – und genau das ist das Problem.
ADHS bei Frauen ist meist nach innen gerichtet. Statt körperlicher Unruhe zeigt sich ein überaktives Denken, emotionale Intensität, Impulsivität in Beziehungen oder chaotisches Zeitgefühl.
Oft wirken Betroffene nach aussen organisiert, aber innerlich herrscht ein permanentes Gedankenfeuerwerk.
Quinn & Madhoo (2014) zeigten in ihrer Übersichtsarbeit, dass ADHS bei Frauen häufig erst dann erkannt wird, wenn sich über Jahre Folgeprobleme entwickeln – etwa Depression, Angst oder Erschöpfung. Die Autorinnen sprechen von einer „verlorenen Generation“ von Frauen, die sich jahrzehntelang selbst pathologisiert haben, bevor sie überhaupt wussten, dass ADHS mehr ist als Konzentrationsprobleme.
Viele berichten, dass die Diagnose ihrer Kinder der Schlüssel war: Plötzlich sehen sie sich selbst in den Symptomen wieder. Und aus einem Gefühl des Scheiterns wird ein Gefühl des Erkennens.
Autismus bei Frauen – Anpassung als Tarnung
Autistische Frauen mit Neurodivergenz werden oft als „zu sensibel“, „zu eigen“ oder „zu perfektionistisch“ wahrgenommen.
Sie fallen nicht durch fehlende Empathie auf, sondern durch zu viel davon. Sie spüren Emotionen anderer intensiv, überanalysieren soziale Situationen und brauchen danach oft tagelang Ruhe.
Die Studie von Hull et al. (2017) beschreibt Camouflaging als häufige Strategie autistischer Frauen: Sie verbergen ihre Besonderheiten, um in einer neuronormativen Welt zu bestehen.
Doch der Preis ist hoch. Frauen, die jahrelang maskieren, berichten von Burn-out, Angststörungen und Identitätsverlust.
Viele erzählen, dass sie erst nach der Diagnose begriffen haben, warum sie so erschöpft sind. Die Erkenntnis bringt Trauer – aber auch Erleichterung. Sie erlaubt, das eigene Leben neu zu gestalten, mit Grenzen, die früher undenkbar waren.
Gesellschaftlicher Druck und Rollenbilder
Die Sozialisierung von Mädchen spielt eine grosse Rolle bei der späten Erkennung von Neurodivergenz.
Schon früh lernen sie, freundlich, hilfsbereit, anpassungsfähig zu sein. Eigenschaften, die gesellschaftlich als „weiblich“ gelten – und die gleichzeitig das Masking fördern.
Ein Mädchen, das überfordert, zurückgezogen oder reizempfindlich ist, gilt selten als neurodivergent. Sie gilt als schüchtern, empfindsam, sensibel. Das Label „nett“ ersetzt die Analyse der Ursachen.
Der gesellschaftliche Druck, „funktionieren“ zu müssen, verstärkt sich mit dem Alter. Frauen mit Neurodivergenz versuchen, Beruf, Beziehungen und Emotionen unter Kontrolle zu halten – oft bis zur völligen Erschöpfung.
Wenn sie dann zusammenbrechen, wird der Burn-out meist psychologisch, nicht neurobiologisch gelesen.
Die eigentliche Ursache – eine nicht erkannte Neurodivergenz – bleibt unentdeckt.
Wenn endlich alles Sinn ergibt
Der Moment der Diagnose ist für viele Frauen mit Neurodivergenz eine Zäsur.
Nach Jahren des Zweifels, der Anpassung und des inneren Drucks verstehen sie plötzlich, warum vieles im Leben so schwierig war. Die Spätdiagnose bei Frauen mit Neurodivergenz als Gamechanger.
Doch die Erkenntnis bringt ambivalente Gefühle:
– Erleichterung, weil endlich ein Name für das Erlebte existiert.
– Trauer, weil so viel Energie in Anpassung geflossen ist.
– Wut, weil niemand früher hingeschaut hat.
– Hoffnung, weil ein neues Kapitel beginnt.
Viele Betroffene berichten, dass sie sich nach der Diagnose zum ersten Mal authentisch erleben. Sie erlauben sich, Pausen zu machen, Reizschutz zu suchen, „Nein“ zu sagen – Dinge, die vorher undenkbar waren.
Die Spätdiagnose bei Frauen mit Neurodivergenz wird damit zu einem Wendepunkt: weg vom Überleben, hin zum Leben.
Was danach hilft
Eine Diagnose ist kein Etikett, sondern ein Werkzeug. Sie öffnet den Raum, sich selbst besser zu verstehen und die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Hilfreich sind:
– Selbstaufklärung: Wissen über Neurodivergenz hilft, alte Schuldgefühle zu lösen.
– Therapie oder Coaching: Nicht zur „Heilung“, sondern zur Integration – um Strategien zu finden, die zu deinem Gehirn passen.
– Community: Der Austausch mit anderen neurodivergenten Frauen ist oft heilsamer als jede Fachliteratur.
– Angepasste Strukturen: Flexible Arbeitsmodelle, sensorisch ruhige Umgebungen, weniger Reizüberflutung – das ist keine Bequemlichkeit, sondern Selbstfürsorge.
Auch Arbeitgeber:innen können viel beitragen, wenn sie verstehen, dass Neurodivergenz Vielfalt bedeutet – nicht Defizit.
Mehr dazu findest du im Artikel Neurodivergenz: Formen und Stärken.
Von Selbstzweifel zu Selbstverständnis
Viele Frauen sagen nach ihrer Diagnose: „Ich erkenne mich endlich wieder.“
Die Erkenntnis, neurodivergent zu sein, ist keine Schwäche. Sie ist ein Kompass – hin zu Klarheit, Selbstakzeptanz und einem Leben, das weniger Energie kostet.
Wenn du dich in vielem wiedererkennst, ist das kein Zufall. Eine Spätdiagnose bei Frauen mit Neurodivergenz kann vieles erklären.
Vielleicht stimmt mit dir nicht nichts, sondern endlich etwas richtig.
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Rechtlicher Hinweis: Dieser Artikel dient ausschliesslich der Information und Prävention. Die Inhalte ersetzen keine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung. Bei akuten psychischen Belastungen wende Dich an einen Arzt oder Psychotherapeuten. Coaching ist keine Heilkunde und behandelt keine Krankheiten.
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