Stimming und Neurodivergenz
Stimming und Neurodivergenz - Foto von ian dooley auf Unsplash

Stimming – Warum selbststimulierende Bewegungen weit mehr sind als „Rumzappeln“

Ein schneller Reminder, worüber wir sprechen
Unter Stimming bei Neurodivergenz versteht man wiederholte Bewegungen, Geräusche oder Berührungen, die neurodivergente Menschen – besonders Autistinnen, ADHS-lerinnen und Tourette-Betroffene – bewusst oder unbewusst einsetzen. Dazu gehören Hand-Flapping, mit den Beinen wippen, Summen, Tippen, das Streichen über Stoffe oder das Zwirbeln von Haaren. Für Aussenstehende wirken diese Handlungen manchmal „komisch“ oder störend, für die Betroffenen selbst erfüllen sie jedoch zentrale Funktionen: emotionale Selbstregulation, Reizfilterung und Kommunikation non-verbaler Zustände. Neuere qualitative Daten zeigen, dass viele Autist*innen ihr Stimming etwa so beschreiben: „Es fühlt sich an, als würde man etwas zurückhalten müssen, das unbedingt gesagt werden will.“ sciencedirect.com


1 | Sinn und Nutzen von Stimming

  1. Sensorische Homöostase. Neurodivergente Gehirne verarbeiten Reize häufig verstärkt oder verzögert. Stimming hilft, ein konstantes Hintergrundsignal zu erzeugen, das überwältigende Sinneseindrücke dämpft. Eine 2024 veröffentlichte Studie fand, dass selbst geringe Möglichkeiten zum Stimming die Herzfrequenzvariabilität verbessern – ein Marker für Stressregulation. journals.sagepub.com
  2. Emotionale Entlastung. Bei Überforderung, Freude oder Angst wirkt Stimming wie ein „Druckventil“. Teilnehmende einer Interview-Studie beschrieben, dass sie so schneller in einen regulierten Zustand zurückkehren können. pmc.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Selbstausdruck. Bestimmte Bewegungen haben innerhalb der Autistic Community längst Symbolcharakter; sie signalisieren anderen, „hier fühle ich mich gerade sicher“ oder „ich brauche Rückzug“.

2 | Perspektivwechsel für Angehörige

  • Beobachte ohne zu bewerten. Fragt lieber: „Hilft dir das?“ als „Kannst du damit aufhören?“
  • Ersetze riskantes Stimming, statt es zu verbieten. Wenn Schlagen oder Beissen ein Thema sind, können Kausticks, gewichtete Gegenstände oder Silikon-Armreifen eine verletzungsfreie Alternative sein.
  • Gemeinsam planen. Überlegt vor lauten, langen Events (Hochzeiten, Shopping-Tour, Messe), wo Ruhezonen sind oder wie ein schnelles „Exit-Signal“ aussehen kann.

3 | Warum Unternehmen Stimming ernst nehmen sollten

Eine Deloitte-Erhebung (2024) zeigt, dass 70 % der neurodivergenten Beschäftigten ihr Stimming am Arbeitsplatz bewusst unterdrücken – und damit Konzentration und Produktivität verlieren. diversitycertification.org Gleich­­zeitig berichten Mitarbeitende in neuro­freundlichen Settings von bis zu 30 % höherer Arbeitszufriedenheit. Konkrete Ansatzpunkte:

MaßnahmeWirkungKosten
Stimming-Raum / Ruheraum mit gedimmtem Licht, Textur-Panels, Schaukelstuhlschnelle De-eskalation bei Reizüberflutungniedrig (Umbau eines kleinen Büros)
Geräuschkulisse anpassbar (Noise-Cancelling-Headsets, White-Noise-Maschinen)reduziert akustische Triggermittel
Flexible Kleiderordnung (z. B. barfuss, Hoodie statt Hemd)taktile Selbstregulationnull
Akzeptierende Kultur (Poster, Intranetschulungen)senkt Disclosure-Barrierennull

Eine aktuelle Raumplanungs-Studie schlägt explizit modulare „Stimm-Pods“ vor, die sich an Schreibtisch-Clustern andocken lassen und spontan genutzt werden können. journals.sagepub.com SAP, Microsoft und mehrere Schweizer Banken testen solche Pods bereits in Pilotetagen.


4 | Coaching-Impuls: Stimming als Ressource rahmen

  • Kognitive Reframing-Übung: Liste typische Stims auf und ergänze jeweils „hilft mir dabei, …“.
  • Embodiment-Check-In: Starte Meetings mit 30 Sekunden freiem Bewegen (Hände kneten, Fussballen kreisen). Das normalisiert sichtbare Selbstregulation für alle.
  • Skill-Transfer: Wer rhythmisch mit dem Stift tippt, kann das Muster nutzen, um Präsentationsphasen zu strukturieren oder Memory-Palace-Techniken zu timen.

5 | Take-aways

  1. Stimming bei Neurodivergenz ist kein „unnützes Zappeln“, sondern ein hoch wirksames Selbst­management-Tool.
  2. Angehörige gewinnen, wenn sie Stimming nicht pathologisieren, sondern intelligente Alternativen und sichere Räume schaffen.
  3. Firmen, die Stimming zulassen, profitieren von höherer Bindung, weniger Sick-Days und einer Kultur psychologischer Sicherheit.
  4. Coaching kann helfen, individuelle Stims zu identifizieren, Barrieren abzubauen und arbeits­praktische Lösungen (z. B. Re-Design von Workflows) umzusetzen.

Weiterführende Studien & Open-Access-Quellen

Titel (Kurzform)JahrDOI / Kennung
Beyond self-regulation: Autistic experiences and perceptions of stimming202410.1177/27546330241311096 journals.sagepub.com
“It feels like holding back something you need to say”202110.1016/j.rasd.2021.101787 sciencedirect.com
People should be allowed to do what they like2019PMCID: PMC6728747 pmc.ncbi.nlm.nih.gov
Investigating optimal physical spaces for supporting neurodivergent staff202410.1177/27546330241285353 journals.sagepub.com
Creating an Inclusive Workplace for Neurodiverse Employees (Deloitte Brief)2024White-Paper-ID: DEI2024-ND-01 diversitycertification.org

Alle DOIs lassen sich direkt über doi.org abrufen.


Schlusswort
Indem wir Stimming bei Neurodivergenz als legitime Form der Selbstfürsorge und Kommunikation respektieren, öffnen wir Türen – in Familien, Schulen und Boardrooms gleichermassen. Coaching – und vor allem eine Prise Offenheit – helfen, dass aus einem vermeintlichen „Störfaktor“ ein sichtbares Zeichen für gelebte Neurodiversität wird.

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